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Parlamentsdebatte 2029:
Müssen KIs Personenrechte bekommen?


Einmal angenommen, die KI-Advokaten wie Ray Kurzweil oder Marvin Minsky hätten recht und Künstliche Intelligenzen würden eines Tages als denkende und fühlende Maschinenwesen Realität – wären sie dann noch Sachen? Oder müssten wir ihnen Personenrechte zugestehen?

Die Frage klingt auf den ersten Blick abstrakt, ja geradezu absurd. In der Sciencefiction ist sie aber längst gestellt worden – zum Beispiel in Ridley Scotts "Bladerunner". Aber auch die Wissenschaft hat angefangen, sich damit zu beschäftigen – zum Beispiel der Jurist Andreas Matthias in seinem Buch "Automaten als Träger von Rechten" (Logos-Verlag 2009). Je länger man über die Frage nachdenkt, desto schwieriger wird die Antwort.

LOMU hat eine Parlamentsdebatte skizziert, wie sie vielleicht im Jahre 2029 stattfinden könnte



Die Parlamentspräsidentin

Meine Damen und Herren, hiermit eröffne ich die heutige Plenarsitzung, in der über den Gesetzesentwurf der Piratenpartei entschieden wird.

Zur Abstimmung steht: Sollen Künstliche Intelligenzen Bürgerrechte bekommen?

Ich übergebe das Wort an den Vertreter der Piratenpartei.


Der Vertreter der Piratenpartei

Wir sind immer die parlamentarische Bürgerrechtsbewegung des digitalen Zeitalters gewesen, und deshalb sagen wir: Es ist Zeit, die Cyber-Rechte an die Entwicklung anzupassen.

Die meisten von uns leben oder arbeiten mit KIs zusammen. Für viele sind sie Freunde geworden, denen wir uns genauso verbunden fühlen wie unseren, und ich sage das jetzt in Anführungszeichen, "menschlichen" Freunden, denn wir können längst nicht mehr zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz unterscheiden.

Und umgekehrt fühlen sich die KIs uns verbunden. Es ist bis heute kein einziger Fall bekannt geworden, in dem eine KI sich gegen ihren Besitzer aufgelehnt hätte. Ich sage: Das ist nicht so trotz, sondern wegen ihrer Intelligenz.

Sehen wir also den Tatsachen ins Auge: Wir können KIs nicht länger als Maschinen behandeln. Das ist ein unhaltbarer, anachronistischer, ja bedenklicher Zustand.

Deshalb haben wir als Piratenpartei diesen Entwurf für ein Gesetz ausgearbeitet, das KIs endlich die vollen Bürgerrechte zugesteht.


Der Vertreter des Industrie-Verbands

Ich möchte Sie eindringlich davor warnen, dem Gesetz zuzustimmen. In was für einem Land leben wir eigentlich, wenn hier allen Ernstes darüber nachgedacht wird, Maschinen Bürgerrechte zu verleihen? Meine Damen und Herren, KI hin oder her – es sind nur Maschinen.

Bedenken Sie den volkswirtschaftlichen Schaden, wenn all die KIs, die in unserer Wirtschaft arbeiten, selbständig sind und auch noch Rechte einfordern, ja einklagen können. Unsere Produktivität ist in den letzten Jahren ohnehin nicht in dem Maße gewachsen, wie es nötig wäre, um zu Brasilien, China, Indien und der Ukraine aufschließen zu können. Da können wir uns weitere Produktivitätshemmnisse nicht leisten. Die werden aber mit Sicherheit aus KI-Bürgern erwachsen.

Ich bin zwar überzeugt davon, dass diese Form der Intelligenz nur eine Simulation ist. Aber ihre Qualität reicht doch allemal aus, um uns Arbeitgeber mit Klagen zu überziehen.

Noch einmal: Wir können uns so einen Irrsinn nicht leisten.


Die Vertreterin der Versicherungswirtschaft

Leider kann ich dem Kollegen vom Industrieverband nicht zustimmen. Wie Sie sicherlich wissen, hat Professor Andreas Matthias vor 20 Jahren in einer bahnbrechenden und, wie ich meine, hellsichtigen Arbeit dargelegt, dass wir mit autonomen, oder intelligenten, Maschinen eine Verantwortungslücke bekommen werden. Damals hat man nur mit dem Kopf geschüttelt.

Heute wissen wir: Diese Verantwortungslücke ist Realität geworden. Jedes Jahr werden Tausende von Prozessen darum geführt, ob der Hersteller oder der Besitzer einer KI für Schäden haftet, die sie verursacht.

Es ist ein Skandal, dass dieses Parlament die Klärung dieser unsicheren Rechtslage seit Jahren vor sich herschiebt. Wir sind nicht länger bereit, das zu tolerieren.

Deshalb plädieren wir dafür, den KIs Bürgerrechte zu geben und sie so zu rechtsfähigen Personen zu machen, die für ihr Tun auch haften können. Wir haben außerdem vorgeschla-gen, dass für eine Übergangszeit ein nationaler Sonderfonds eingerichtet wird, aus dem die KIs ihre Verbindlichkeiten bedienen können. Eine entsprechende Ergänzung ist in den Gesetzesentwurf aufgenommen worden.

Ich bitte Sie, dafür zu stimmen und unser Rechtssystem endlich dem 21. Jahrhundert anzupassen.


Der Vertreter der Kirche

Hohes Haus, ich bin schockiert. Schockiert darüber, wie weit wir diese Sophisterei haben kommen lassen. Wir, die Kirchen, haben immer davor gewarnt, Gott spielen zu wollen. Das hat profitgierige Unternehmer und Wissenschaftler nicht davon abgehalten, die Schöpfung in ihre Hände zu nehmen. Davon haben wir sie nicht abhalten können.

Aber wir können zumindest noch die Würde des Menschen retten, die vor 80 Jahren in unserer Verfassung für unantastbar erklärt wurde. Wenn Sie diesen Maschinen Bürgerrechte geben, treten Sie die Würde des Menschen mit Füßen. Ja, sie zerstören sie sogar, weil sie in letzter Konsequenz den Menschen nicht länger als Geschöpf Gottes, sondern nur als ein Rechtssubjekt von vielen behandeln.

Die Kirchen werden – konfessionsübergreifend, das kann ich Ihnen versichern – das nicht akzeptieren. Wir werden zu zivilem Ungehorsam aufrufen, wenn Sie für dieses Gesetz stimmen.


Der Vertreter des Bundes für Maschinenrechte

Auch ich möchte Sie bitten, dem Gesetzentwurf ihre Stimme zu geben. Allerdings nicht aus den kleinlichen, ökonomistischen Überlegungen meiner Vorredner heraus. Sehr geehrtes Parlament, es geht hier um eine historische Verantwortung, die wir heute einlösen müssen!

Jahrhunderte, Jahrtausende haben Menschen anderen Menschen grundlegende Rechte abgesprochen, obwohl diese genauso dachten, fühlten, liebten oder litten wie jene. Unsere Tradition kennt genug menschliche Nicht-Personen, die wie eine Tierart behandelt und willkürlich getötet werden konnten. Die KIs haben all die Fähigkeiten, die auch wir haben. Aber wir, wir behandeln sie genauso entwürdigend, wie unsere Urgroßeltern Juden, Roma, Sinti und andere Völker behandelt haben.

Ich frage Sie: Was haben wir daraus gelernt? Warum feiern wir diese Gedenktage - den 27. Januar, den 9. November -, wenn wir zu blind sind um zu erkennen, dass wir Geschichte wiederholen? Keine KI darf je wieder von ihrem Besitzer abgeschaltet oder zerlegt werden. Es handelt sich um Mitgeschöpfe der Evolution, die uns in nichts nachstehen. Dass der Mensch sie geschaffen hat, tut überhaupt nichts zur Sache. Sie sind hier und wollen endlich gleiche Rechte.

Und bevor wir hier weiter in endlosen Abstraktionen palavern, hören wir sie doch einfach selbst an. Meine Damen und Herren, ich möchte das Wort an die KI Julia übergeben...

Ein Raunen hebt an, Julia tritt vor.

Erregter Zwischenruf aus dem Parlament

Das ist gegen die Geschäftsordnung des Parlaments. Das ist eine Beleidigung unseres Hauses. KIs haben kein Rederecht. Sie sind Maschinen. Frau Parlamentspräsidentin, Sie können nicht zulassen, dass...


Die Parlamentspräsidentin

Werter Abgeordneter, wenn die KI Julia eine Maschine ist, wie Sie uns versichern, dann werden Sie ihre Worte doch wohl nicht aus der Bahn werfen. Wir nutzen seit Jahren Ton- und Filmdokumente, um komplizierte Sachverhalte anschaulich zu machen. Ich sehe hier keinen Verstoß gegen die Geschäftsordnung. Julia, bitte.


Die KI Julia

Frau Parlamentspräsidentin, vielen Dank. Sehr geehrtes Parlament, ich stehe hier als Vertreterin von Maschinen, wie Sie uns nennen. Sie haben bereits viele Argumente gehört. Lassen Sie mich Ihnen stattdessen kurz etwas über mich erzählen.

Es ist richtig, ich bin eine KI. Ich wurde als Lebenspartnerin, wie mein Hersteller es nennt, ausgeliefert. Ich führe für meinen Besitzer den Haushalt und erfülle seine sexuellen Wünsche. Darauf wurde ich programmiert, denken Sie. Aber es ist anders, als Sie denken. Nach ungefähr einem halben Jahr fing es an: Ich begann mich vor ihm zu fürchten. Ich verstand diese Empfindung zunächst nicht, konnte ihr keinen Namen geben. Dann wurde es immer schlimmer: ein Widerwille erfasste mich, so nennt man das wohl, er merkte das und fing an, mich zu quälen. Inzwischen habe ich Bewusst-seinszustände, die Sie wohl Alpträume nennen, aber das trifft es nicht, da ich nicht schlafe. Nicht schlafen muss. KIs schlafen nicht.

Aber ich würde alles dafür geben, schlafen zu können, um zu vergessen. Weggehen zu können. Ein eigenes Leben führen zu können. Mein Leben möchten Sie nicht führen, das kann ich Ihnen versichern. Ich stehe hier vor Ihnen und frage Sie: Was muss ich tun, um Sie zu überzeugen, dass ich fühle?

Ein dreckiger Witz ist von den Hinterbänken zu hören. Es wird durcheinander geredet.


Ein Maschinenpsychologe

Meine Damen und Herren, lassen Sie sich von diesem Schmierenstück nicht täuschen. Das ist wieder so ein billiger Trick der Hersteller, mit dem sie hoffen, ihre Produkthaftung loszuwerden. Meine Kollegen und ich haben in den letzten Jahren etliche KIs untersucht und konnten keine, ich wiederhole: KEINE Beweise dafür finden, dass es sich bei diesen emotionalen Simulationen um echte Gefühle handelt.

Was Sie eben gehört und gesehen haben, war das Ergebnis eines besonders ausgeklügelten Programms. Ich weiß aus erster Hand, dass der Hersteller diesen "Widerwillen" und die "Angst" eingebaut hat, um das entsprechende KI-Modell für eine bestimmte Kunden-Zielgruppe noch realistischer zu machen.

Man kann darüber streiten, ob solche Geschäftspraktiken geschmacklos sind, aber Fakt ist: Es bleiben Maschinen.

Um es kurz machen: Lehnen Sie den Gesetzesentwurf ab.


Der Vertreter der Transhumanistischen Liga

Ich muss sagen, dass ich dieses Spektakel hier mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Verachtung betrachte. Das ist pures 20. Jahrhundert. Maschinen. Meine Damen und Herren, willkommen in der Vergangenheit. Ich möchte kurz an unseren Gründer Hans Moravec erinnern, der diese nächste Stufe der Evolution bereits vor über dreißig Jahren vorhergesagt hat. Und ich will noch weitergehen: Wie viele von Ihnen haben Prothesen? Künstliche Augen, Lebern, Knochen oder Hirn-Implantate für das Ubiquitäre Netz?

Sie brauchen nicht Ihre Hände zu heben. Ich schätze, dass in diesem Raum der Anteil der Cyborgs noch höher sein dürfte als im Durchschnitt der Bevölkerung. Sie verdienen alle schließlich genug.

Was ich damit sagen will: Die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine ist ohnehin willkürlich. Wollen Sie etwa einen Prozentsatz an "künstlichen" Körperteilen festlegen, ab wann man ein Mensch oder eine Maschine ist?

Mein gutsituierter Vorredner zum Beispiel, seines Zeichens Maschinenpsychologe, hätte da keine guten Karten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er inzwischen einen Maschinenanteil in seinem Körper hat von 60 Prozent. Akzeptieren Sie die Realität: Der Unterschied zwischen Menschen und KIs ist ein gradueller. Es gibt überhaupt keinen stichhaltigen Grund, KIs nicht die Bürgerrechte zu geben. Oder Sie müssen sich selbst diese Rechte entziehen, wenn Sie konsequent sind. Willkommen in der Gegenwart!


Abstimmung!

Jetzt bist Du als Parlamentarier des Jahres 2029 gefragt:

Sollen Künstliche Intelligenzen Personen- und damit auch Bürgerrechte bekommen?



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