Auszuege aus Mancur Olsons
"Die Logik des kollektiven Handelns"
Mohr Siebeck, Tübingen 1968 (4. Auflage 1998)


Olson schreibt zu traditionellen Theorien der Gruppe:

Es ist charakteristisch für die traditionelle Theorie aller Richtungen, daß sie annimmt, die Teilnahme an freiwilligen Verbänden sei ihrem Wesen nach universal, und die Tendenz, Mitglieder anzuziehen, habe in kleinen Gruppen und großen Organisationen die gleichen Gründe. ... Insoweit also die traditionelle Theorie überhaupt eine Unterscheidung zwischen kleinen und großen Gruppen trifft, geschieht dies offensichtlich im Hinblick auf den Umfang der Funktionen, die sie erfüllen, und nicht im Hinblick auf den Erfolg, den sie dabei haben, oder ihre Fähigkeit, Mitglieder zu gewinnen.
...
Die traditionelle Theorie wird durch die empirische Forschung in Frage gestellt, die zeigt, daß der Durchschnittsmensch in Wirklichkeit nicht typischerweise großen freiwilligen Verbänden angehört.
(S. 19)

Olsons Theorie besagt nun:

..., daß sich bestimmte kleine Gruppen mit Kollektivgütern versorgen können, ohne dabei zu Zwang oder irgendwelchen positiven Anreizen, abgesehen vom Kollektivgut selbst, zu greifen. Das kommt daher, daß in einigen kleinen Gruppen jedes Mitglied oder wenigstens eines von ihnen feststellen wird, daß sein persönlicher Gewinn aus dem Kollektivgut die Gesamtkosten aus der Bereitstellung einer gewissen Menge dieses Kollektivguts übersteigt;...
(S. 32)

...je größer die Gruppe ist, desto weniger wird sie in der Lage sein, die optimale Menge eines Kollektivguts bereitzustellen.
(S. 33)

Und weiter:

In einer kleinen Gruppe, in der der Anteil eines einzelnen Mitgliedes am Gesamtgewinn so groß ist, daß es eher die gesamten Kosten allein tragen würde als auf das Gut zu verzichten, spricht vieles dafür, daß das Kollektivgut bereitgestellt werden wird.

In einer Gruppe, in der kein Einzelner einen so großen Vorteil aus dem Kollektivgut zieht, daß er es selbst dann bereitstellen würde, wenn er alle Kosten allein tragen müßte – in der aber der Einzelne im Vergleich zur gesamten Gruppe immerhin so wichtig ist, daß sein Beitrag bzw. mangelnder Beitrag zum Gruppenziel die Kosten oder den Ertrag der anderen Gruppenmitglieder merklich beeinflußt –, in einer solchen Gruppe ist das Ergebnis unbestimmt.

Dagegen wird in einer großen Gruppe, in der der Beitrag keines Einzelnen sich auf die Gruppe als ganzes oder auf die Belastung bzw. den Gewinn irgendeines einzelnen Mitgliedes fühlbar auswirkt, ein Kollektivgut sicher nicht bereitgestellt werden; es sei denn die Mitglieder der großen Gruppe werden durch Zwang oder irgendwelche äußeren Anreize dazu gebracht, in ihrem gemeinsamen Interesse zu handeln.
(S. 43, kursive Hervorhebung von Olson)

Die vorige Analyse ist zunächst unabhängig davon, ob sich die Gruppe in einer Marktsituation befindet oder nicht. In einer Marktsituation würde man Monopol, Oligopol und atomistische Konkurrenz unterscheiden. In Nicht-Marktsituationen (also Politik oder gesellschaftliche Agitation) entspricht 1. dem Monopol eine Einzelperson, 2. dem Oligopol eine kleine bis mittelgroße Gruppe und 3. der atomistischen Konkurrenz eine große Gruppe. Olson definiert nun drei Arten von Gruppen, die für die weitere Untersuchung interessant sind – die ersten beiden gehören zu Kategorie 2., die dritte zu Kategorie 3. Die Einzelperson betrachtet er nicht weiter.

Eine "privilegierte" Gruppe ist dadurch gekennzeichnet, das jedes einzelne Mitglied oder zumindest eines von ihnen Veranlassung hat, das Kollektivgut bereitzustellen, selbst wenn es die gesamten Kosten für die Bereitstellung zu tragen hat. ...und zwar kann es ohne irgendwelche Gruppenorganisation oder -koordination erlangt werden.

Eine "mittelgroße" Gruppe ist eine Gruppe, in der einerseits kein einzelner einen genügend großen Anteil am Gewinn erhält, um sich veranlaßt zu sehen, das Gut selbst bereitzustellen, die aber andererseits nicht so viele Mitglieder zählt, daß niemand bemerken würde, ob ein Mitglied zur Bereitstellung des Kollektivgutes beiträgt oder nicht. ...in keinem Fall kann ein Kollektivgut ohne irgendwelche Gruppenübereinkunft oder -organisation erlangt werden.

[Als Drittes gibt es] die sehr große Gruppe, die hier "latente" Gruppe genannt werden soll. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß kein Mitglied fühlbar betroffen wird, wenn irgendein Mitglied zur Bereitstellung des Gutes beiträgt oder nicht beiträgt, und deshalb niemand einen Grund hat, darauf zu reagieren. ...Folglich bieten große oder "latente" Gruppen keinen Anreiz, so zu handeln, daß ein Kollektivgut erlangt wird, denn gleichgültig, wie wertvoll das Kollektivgut für die Gruppe als ganzes sein mag, besteht für den Einzelnen doch kein Anlaß, Beiträge an einer Organisation zu bezahlen, die im Interesse der latenten Gruppe arbeitet – oder auf irgendeine andere Weise die Kosten des notwendigen gemeinsamen Handelns mitzutragen.
Nur ein ein besonderer und "selektiver" Anreiz wird ein rational handelndes Mitglied einer latenten Gruppe dazu bewegen, gruppenorientiert zu handeln. ... Große Gruppen werden deshalb "latente" Gruppen genannt, weil sie eine latente Macht oder Fähigkeit zum Handeln haben, aber diese mögliche Macht nur mit Hilfe von "selektiven Anreizen" realisieren oder "mobilisieren" können.
(S. 48–50, kursive Hervorhebung von Olson, Fettung von nbo zur besseren Übersichtlichkeit)

Olson geht dabei immer von rational handelnden Individuen aus. Das ist die Grundlage seiner Theorie. Er räumt weiter hinten im Buch ein, dasss bei irrational handelnden Individuen (z.B. in religiösen Gruppen auch Ausnahmen von seiner Theorie auftreten).

Außerdem geht es immer nur um Kollektivgüter. Hier unterscheidet er dann inklusive und exklusive Güter. Bei inklusiven bekommt keiner aus einer Gruppe weniger, wenn die Gruppe ein paar Mitglieder mehr hat, bei exklusiven hingegen wird der Gewinn für jeden Einzelnen kleiner, wenn weitere Mitglieder hinzukommen.

Gegen Ende des Buches geht Olson noch auf die Frage ein, warum unter den amerikanischen Lobbygruppen in Washington (bezogen auf Anfang der 1960er) überproportional viele aus der Wirtschaft kommen (825 von 1247), und schreibt:

Der hohe Organisationsgrad der Unternehmerinteressen und die Macht dieser Unternehmerinteressen muß zum großen Teil auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß die Unternehmer sich auf eine Vielzahl von (im allgemeinen oligopolistischen) "Gewerbezweigen" verteilen, von denen jeder nur eine ziemlich kleine Zahl von Firmen umfaßt. Die Zahl der Firmen in jedem Gewerbezweig ist oft nicht größer als die einer "privilegierten" Gruppe und selten größer als die einer "mittelgroße" Gruppe;...

...folgt , daß die Arbeitnehmer-, die freiberuflichen und die landwirtschaftlichen Interessen des Landes große latente Gruppen darstellen, die sich nur dann organisieren und wirkungsvoll handeln können, wenn ihre latente Macht durch eine Organisation gekennzeichnet wird, die politische Macht als Nebenprodukt schaffen kann; im Gegensatz dazu können sich die Unternehmerinteressen im allgemeinen ohne solche von außen kommende Hilfe freiwillig und unmittelbar organisieren...
(S. 141, kursive Hervorhebung von Olson)

Olson zitiert außerdem einen anderen Autor mit Zahlen für den Organisationsgrad anderer gesellschaftlicher Interessen (also latenter Gruppen): 0,6 Promille der amerikanischen Verbraucher sind (Anfang der 1960er) in der Nationalen Verbraucherliga organisiert; 6 Prozent der amerikanischen Autofahrer in der Amerikanischen Automobilvereinigung; 15 Prozent der Kriegsveteranen in American Legion.

Zusammenstellung von nbo