LOMU Hamburg: soziale Experimente und Aktionen zu Technologie, Kunst, Politik, Gesellschaft, Globalisierung, Regionalisierung, Globalisierungskritik, Schwarmintelligenz, …konomie, Situationismus, Utopie, Stadtentwicklung, UrbanitŠt, Zukunftsvisionen, Futurologie, Trendforschung, Kapitalismuskritik, Web 2.0, Community
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Sind Massen dumm und Schwärme intelligent?

Ein neuer Terminus macht die Runde, in der Welt der Trend- und Zukunftsforscher. Schwarmintelligenz soll den, zugegebenermaßen inzwischen abgetretenen, Begriff "Netzwerk" ablösen. Mehr noch: Er verheißt eine neue Welt, in der Individualität, Konsumentenmacht, selbstorganisiertes, effizientes und koordiniertes Handeln vereinbar sind. Das bringt Vorteile, die deutlich größer sind als die egoistische Optimierung ureigenster Interessen. Doch was ist die Schwarmintelligenz und was bringt sie mir?

Der Begriff "Schwarmintelligenz" wurde zum ersten Mal verwendet in der Wissenschaft der Künstlichen Intelligenz (1). Besonderes Interesse kam aus dem Forschungsfeld der Agententechnologie, in der es darum geht, mittels "intelligenter", d.h. relativ selbstständiger und selbstlernender Programme, komplexe Problemstellungen oder Optimierungsaufgaben (2) zu lösen. Ein Beispiel für den erfolgreichen Einsatz dieser Algorithmen ist eine verbesserte Auslastung von Telekommunikationsnetzen oder LKW-Routen.

Ausgehend von Staaten bildenden Insekten (z. B. Bienen, Ameisen, Termiten) wird versucht, die dort verwendeten Lösungsstrategien des koordinierten Handelns zu übertragen. Obwohl die einzelnen Individuen weitgehend unabhängig voneinander agieren, lösen sie gemeinsam komplexe Probleme. Dies erfordert ein hohes Maß an Selbstorganisation, da keine zentralisierte Form einer Oberaufsicht existiert. Das Ganze ist also mehr als die Summe seiner Teile!

Die Koordination der Aktivitäten basiert in starkem Maße auf ständiger Interaktion zwischen den Individuen. Die Schwarmintelligenz erlaubt den Tieren das schnelle Reagieren auf Bedrohungen oder die Lösung komplexer Optimierungsprobleme, zum Beispiel das Auffinden des kürzesten Weges zu einer Futterquelle.

Zentral für die Gewährleistung des koordinierten Handelns scheint also die Kommunikation untereinander zu sein. Ameisen beispielsweise nutzen dafür Pheromone, Bienen den Schwänzeltanz. Ein Grund, weshalb der Begriff der Schwarmintelligenz von der soziologischen Forschung mit offenen Armen aufgegriffen wurde, ist zweifelsohne die inzwischen herkömmliche Grenzen überschreitende Kommunikationsvielfalt.

Als sich das Internet in den 90er Jahren stark ausbreitete, beflügelten progressive Jungunternehmer die Börsenwelt mit Ideen von bahnbrechend neuen Geschäftsprozessen und Produkten. Damals ahnten nur wenige, dass es die soziale Interaktion sein wird, die den eigentlichen Clou an den neuen Medien ausmachen wird. "Der wahre Wert des Netzes liegt weniger in der Information, als in der Gemeinschaft", sagte in den 80ern Nicholas Negroponte, Leiter des Media Lab am MIT.

Die Internetnutzung hat weltweit Einzug in den Großteil der Haushalte gefunden, doch es sind die Handys, die alle Erwartungen übertreffen. Der Mobiltelefonmarkt boomt: Mehr als 82 Millionen Handys sind in Deutschland verkauft worden. Ende 2006 wird es erstmals mehr Handys als Bundesbürger geben. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie des Axel Springer Verlags. (Dagegen verfügen im II. Quartal 2006 66 Prozent aller Deutschen über einen Internet-Zugang.)

Was liegt also näher als die next revolution in den sozialen und damit auch politischen Prozessen auszurufen? "Social swarming", die "smart mobs", sie sind das nächste große Ding.

Doch, wie soll das gehen, was muss ich tun, um schwarmintelligent zu sein? Wie bilde ich einen Schwarm und wozu überhaupt?

Ein Schwarm kann als eine Gruppe von Individuen beschrieben werden, die mittels direkter Kommunikation, selbstorganisiert und ohne (großartige) vorhergehende Planung, effizient, flexibel und zielgerichtet agieren kann. Ganz gleich, ob es sich um die Schätzung des Gewichts eines Ochsen, um die Suche nach einem vermissten U-Boot oder die Isolierung des SARS-Erregers geht, Gruppen finden die effektivere Lösung eines Problems. Für die Aufgaben der Gesellschaft der Zukunft sind Experten und (Meinungs-)Führer eher das Auslaufmodell, sagt James Surowiecki in seinem Buch "Die Weisheit der Vielen" (eine durchaus kritische Rezension des Buches findet ihr hier).

Die Idee hinter der Schwarmintelligenz ist also folgende: Wir sind individuell, mobil und flexibel. Wir haben eine Unmenge an Optionen/Wahlmöglichkeiten, mit welchen Inhalten und auf welche Weise wir unseren Alltag füllen oder auch nur bewältigen. Dabei gibt es trotz allem und gemessen an dem großen Ganzen Schnittmengen unserer Interessen und Ziele. Dazu verfügen wir über die Möglichkeit, schnell eine Vielzahl anderer Menschen zu erreichen.

Jetzt müssen nur noch Ideen her, Initiativen, drängende Bedürfnisse, andere Meinungen, um mit der Schwarmintelligenz Zeichen zu setzen, etwas zu erreichen. Die Protestaktionen beim G8-Gipfel in Genua wurden auch nur mit Handys und dynamischen Websites organisiert, ohne übergeordnete Steuerungsinstanz. Legt den Autoverkehr lahm mit einem Schwarm voller Fahrräder auf einer sonst von Autos dicht befahrenen Strasse (wie die Fahrrad-Bewegung critical-mass.org ). Nutzt die Konsumentenmacht aus, um Preisvorteile oder Korrekturen durchzusetzen, zum Beispiel bei den ständig steigenden Strom- und Gaspreisen (bei ebenfalls ständig steigenden Gewinnen der Konzerne), organisiert Guerilla-Autokinos, mit guten Filmen fernab vom Mainstream (GuerillaDriveIn.com – Autokino selbstgemacht)...

Das Geheimnis hinter der Schwarmintelligenz heißt kollektive Selbstorganisation. Das Ziel ist die Durchsetzung gemeinsamer Interessen, Themen stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Doch sind die Unabhängigkeit des Einzelnen, große Meinungsvielfalt, dezentrale Ordnung und eine effektive Art Urteile zu bündeln schon hinreichende oder nur notwendige Bedingungen für die Schwarmintelligenz? Was ist mit der Binsenweisheit: Massen sind dumm und/oder böse? Waren die Heerscharen von Hitlers Soldaten nicht einfach nur "blind", dumm und ohne eigenen Willen?

Diese und andere Fragen müssen noch in sozialen Experimenten erprobt werden und der Realität standhalten.

Wir machen einen Versuch, das erste Smart-Mob-Experiment Hamburgs, und Du kannst dabei sein.

Agnieszka Krzeminska, Hamburg, September 2006


(1) Er und wurde von G. Beni und J. Wang 1989 im Kontext der Robotikforschung geprägt.

(2) Die VKI-Forschung geht davon aus dass höhere kognitive Leistungen durch die Kooperation künstlicher Agenten simuliert werden kann; Marvin Minsky bezeichnet dies als Society of Mind. Ein Einsatzbeispiel für diese so genannten Ameisenalgorithmen stellten Sunil Nakrani von der Universität Oxford und Craig Tovey vom Georgia Institute of Technology 2004 auf einer Konferenz über mathematische Modelle sozialer Insekten vor; sie modellierten die Berechnung der optimalen Lastverteilung bei einem Cluster von Internet-Servern nach dem Verhalten der Bienen beim Nektarsammeln.

LOMU #2

Intro
Was ist Schwarmintelligenz?
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