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Das Problem der Gentrifizifierung
Was ist Gentrifizierung?
Ein kurzer Überblick über das Thema


Der Begriff wurde 1964 in der englischen Form "Gentrification" erstmals von der deutsch-britischen Soziologin Ruth Sass in einem wissenschaftlichen Aufsatz verwendet. Er bezeichnet vereinfacht gesagt einen Prozess, in dem ehemals heruntergekommene oder für den Immobilienmarkt uninteressante innerstädtische Quartiere "aufgewertet" werden.

Obwohl dieser Prozess in vielen Städten unterschiedlich abläuft, gibt es Gemeinsamkeiten:
- Miet- und Grundstückspreise steigen innerhalb weniger Jahre stark an,
- so dass wirtschaftliche schwächere Teile der Bevölkerung aus dem Stadtteil verdrängt werden. Anders gesagt: Wer nicht genug Geld hat, muss bei Miet- und Preiserhöhungen passen und wegziehen.

Dieser Prozess kann aus einer Eigendynamik heraus passieren, weil Stadtteile nach der ersten "Invasion" von Studenten, Künstlern und autonomen Gruppen hip werden und die Nachfrage nach Wohn- und Gewerbeflächen erhöhen, was wiederum Investoren auf den Plan ruft.

Oft wird er aber auch von den Stadtverwaltungen aktiv unterstützt: Die überlassen die nötige Sanierung privaten Investoren, um die kommunalen Haushalte zu entlasten. Dafür erhalten die Investoren im Gegenzug freie Hand, aus den aufgewerteten Stadtteilen Profit herauszuholen. Ein weiterer Anstoß seitens Stadtverwaltungen und -entwicklungsgesellschaften sind "Modernisierungsprojekte" von Straßenzügen oder öffentlichen Plätzen (z.B. Schulterblatt oder Spielbudenplatz).

In der Gentrification-Forschung gibt es zwei Hauptströmungen.

1. Die „Production Theories“ untersuchen die ökonomischen Voraussetzungen am Immobilienmarkt und interpretieren Gentrifizierung als Klassenkonflikt, bei dem Arbeiterklasse und Minderheiten zum Teil bewusst aus den Innenstädten verdrängt werden. Anstoß ist hier ein "Rent Gap", ein Lücke zwischen dem momentanen Wert von Immobilien und dem Wert, der am Markt im Falle einer "Modernisierung" erzielt werden könnte.

2. Die „Consumption Theories“ untersuchen eher soziale Entwicklungen und sehen Gentrifizierung als Teil des Wandels von der klassischen Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Die innerstädtische Industrieproduktion bricht weg und wird durch Werbung, Medien und heimarbeitende Einzelunternehmer ersetzt. Dabei sind die „kreativen Milieus“ die Wegbereiter des Prozesses. Die Ironie daran: Obwohl sie, wie in verschiedenen Studien belegt, bewusst in "wenig wertvolle" Innenstadtteile ziehen, um dort einen linksliberalen Gegenentwurf zum bürgerlichen Suburbia umzusetzen, sägen sie mit jedem Erfolg im Viertel am eigenen Ast.

Loretta Lees, Tom Slater und Elvin Wyly haben in ihrem Buch „Gentrification“ (Routledge 2007, nur auf Englisch), das derzeit als bestes Überblickswerk zum Thema gilt, drei Wellen der Gentrifizierung identifiziert:

1. Welle ca. 1965 – 1973 (Ölkrise): Die Gentrifizierung tritt in einigen Metropolen (New York, London) zunächst als Einzelphänomen auf. In der Folge kaufen Investoren in schwach entwickelten Stadtteilen verstärkt Immobilien auf. Dabei kommt es auch zu Entmietungen, in dem Altmietern Strom und Wasser abgestellt werden, damit diese endlich wegziehen. In besonders drastischen Fällen werden Wohnungen sogar demoliert.

2. Welle ca. 1978 – 1990: Die Gentrifizierung greift auch auf nicht-globale Städte über. Das rasante Wachstum des Dienstleistungssektors in den Jahren von Reagonomics, Thatcherism und beginnender Computerisierung schafft zunehmend Jobs, die keine industrielle Infrastruktur brauchen und in Innenstadt-Quartieren angesiedelt werden können.
Die Rezession Anfang der 90er verlangsamt diese Entwicklung zunächst.

3. Welle seit ca. 1995: Die Gentrifizierung erfolgt nun verstärkt als „Modernisierung“ und Inwertsetzung ganzer Stadtteile und im Kontext eines globalen Standort-Wettbewerbs von Großstädten. Das CDU-Konzept von Hamburg als "wachsender Stadt" mit Prestige-Projekten folgt dieser Logik. Politik und Investoren arbeiten hierbei nicht selten Hand in Hand, um die Innenstadt für den globalen Wettbewerb "attraktiv" zu machen.


In Diskussionen über Gentrifizierung oder aktuelle Vorgänge z.B. in St. Pauli und Schanze kann man immer wieder die Aussagen hören: Aber das ist der Lauf der Dinge, man kann sich doch nicht gegen Veränderung sperren. Wie schon aus der kurzen Einführung oben klar geworden sein sollte, läuft der Prozess aber nicht quasi-"naturgesetzlich" ab, sondern wird von einigen Akteuren gepusht, die über viel mehr Macht verfügen – ökonomische und Planungsmacht.

Gegen Veränderung haben auch diejenigen nichts, die sich gegen Gentrifizierung wehren. Aber sie stellen zurecht in Frage, wie die Veränderung erfolgt:
– Wer bestimmt eigentlich, was sich verändern soll?
– Warum soll Veränderung nur über einen dicken Geldbeutel laufen?
– Warum haben die Bewohner von Stadtteilen bis auf öffentliche Anhörungsprozesse, die häufig Feigenblatt-Veranstaltungen sind, keine Möglichkeit, über die Veränderung zu entscheiden?

Von denjenigen, die Gentrifizierung als positive oder zumindest nötige "Modernisierung" sehen, würde ich dazu gerne Antworten hören.

Und sonst: Was denkt Ihr zu dem Thema?

nbo


Wer mehr wissen will, kann hier weiter lesen:
Eine ausführlichere Darstellung, was die Stadtforschung zur Gentrifizierung herausgefunden hat
Ein Überblick über Vorgänge in St. Pauli und Schanze
Die "Wellen der Gentrifizierung" als Grafik
Links zu Initiativen, Blogs und weiteren Webseiten


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