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"Die neuen Waffen sind Liebe und Kreativität"

Warum der Summer of Love wenig mit den 68ern, aber einiges mit Punk zu tun hat. Eine subjektive Betrachtung.

Wer an die Sechziger denkt, hat sofort jede Menge Bilder im Kopf, von denen viele seit damals von den Medien zu Klischees verdichtet worden sind: seltsam gekleidete, entrückte junge Menschen und langhaarige Kiffer, die Vietnamkriegs-Proteste und das unvermeidliche Che-Guevara-Konterfei, Rudi Dutschke und die APO. Die einen lachen drüber, die anderen wenden sich ab mit Grausen, ein paar werden nostalgisch. Vieles ist längst vom Pop-Mainstream aufgesogen worden.

Seit im Januar eine mögliche vorzeitige Entlassung von Christian Klar Schlagzeilen machte, ist erneut eine heftige Debatte um die "68er", wie die Zeit hierzulande genannt wird, entbrannt. Konservative Kreise versuchen bereits seit ein paar Jahren, die 68er als Wegbereiter der RAF zu denunzieren. Drogen und Proteste, von denen es damals in der Tat reichlich gab, werden als Ursache für eine große Wertezerstörung genannt, unter der wir heute angeblich zu leiden hätten. Verherrlichung des Sozialismus, Ego-Wahn, das Ende der Familie, der Verfall der Moral, dazu gewendete Alt-68er, die heute das tun, was sie damals angeprangert haben... die Liste der Vorwürfe, was alles falsch an 68 sein soll, ist lang.

Diese Debatte ist verengt und vor allem typisch deutsch, weil sie hier nur vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts und der damaligen Randale geführt wird.

Es gibt aber eine andere Perspektive, die bisher unterbelichtet geblieben ist. Ich nenne sie den Spirit von '67, denn vieles, was in diesem Jahr passierte, ist die eigentlich spannende Geschichte der Sechziger. Sie spielt nicht in Berlin, Frankfurt oder Paris, sondern in San Francisco und zum Teil auch in London. Der 1995 verstorbene Beatnik Allen Ginsberg hat es einmal so beschrieben: "'67 war für junge Leute ein bemerkenswertes Jahr, weil das Bewusstsein vereinzelter Individuen schließlich im Human Be-In in San Francisco zusammenkam. Es hatte keinen hyper-rationalen Zweck, es war ein Community-Projekt."

Unruhe in den 50ern

Das Be-In markierte den Auftakt des Summer of Love '67 und zugleich den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die einige Jahre vorher begonnen hatte und an der verschiedene Gruppen – "tribes", wie es Derek Taylor genannt hat – beteiligt waren. Am Anfang standen die Beat Poets ("Beatniks"), die seit den späten 40ern den American Way of Life attackiert hatten. In einem atemlosen Stil beschrieben zum Beispiel Allen Ginsberg, Jack Kerouac oder William Burroughs, um nur die bekanntesten zu nennen, ihren Ausbruch aus der satten Nachkriegsgesellschaft und huldigten Be-Bop, Heroin und ziellosem Herumdriften durch die USA. Von der Ostküste zur Westküste und wieder zurück, ohne irgendein Ziel, einen Zweck. Eine überschaubare Avantgarde, die für damalige Normalbürger der reinste Horror war. Aber sie gab dem, was folgte, das zentrale Thema vor: Befreiung. Befreiung des eigenen Bewusstseins, des Lebensstils, raus aus der bürgerlichen Enge, die Glück und Wohlstand nur in akzeptierten Grenzen zuließ, materiell definierte und kein Problem mit Rassismus und Militarismus hatte.

Die Bürgerrechtsbewegung für die Aufhebung der skandalösen Rassentrennung, die in den 50ern entstand, gab den nächsten Impuls, sich mit den Verhältnissen auseinanderzusetzen. "Dann kamen Rock'n'Roll und LSD und Marihuana. Rühr das alles zusammen und du bekommst die Hippies", sagte einmal Allen Cohen, Gründer der Untergrund-Zeitung San Francisco Oracle. Ab 1964 regte sich auch erster Protest gegen den Vietnam-Krieg, dessen heiße Phase nun begann, aber er war noch nicht das zentrale einigende Moment für die "Counterculture" – die Gegenkultur –, das er später wurde.

Ober-Hippie Abbie Hoffman, der damals lachend Geldscheine verbrannte (s. links), beschrieb den Ausgangsimpuls so: "Die ganzen Sechziger hätte es ohne die Fünfziger nicht gegeben... Auf dem Höhepunkt des American Empire hatten wir alle Bomben, alle Bullen dieser Welt – und es waren alles unsere –, die Cadillacs, die Doppelgaragen, die Ranch-Häuser mit versetzten Etagen. Und in diesem Augenblick, im Angesicht der Statussucher, des Aufwärts-Strebens derer, die heute Yuppies genannt werden – stilbewusst, ängstlich, verzweifelt bemüht, der Mode voraus zu sein – sagten sich plötzlich nicht wenige: Das ist langweilig. Das ist spirituell uninspirierend. Da muss es noch etwas anderes geben. So fingen die Leute allmählich an, Autoritäten anzuzweifeln..."

Tripping

Die Ersten begannen, mit LSD zu experimentieren, das bis Oktober 1966 noch legal konsumierbar war. Einer davon war der junge Schriftsteller Ken Kesey, der 1959 an Drogenexperimenten der Stanford University teilnahm. Unter Aufsicht nahm er Trips und ließ seine Reaktionen von Wissenschaftlern beobachten und analysieren. Dabei ging ihm bald auf, dass die Herren in den weißen Kitteln keinen blassen Schimmer hatten, was er wirklich erlebte. Damals absolvierte er seinen Wehrdienst in der psychriatischen Abteilung eines Krankenhauses für Kriegsveteranen. Die LSD-Erfahrungen veränderten seine Sicht auf die vermeintlich irren Insassen drastisch.

Das Ergebnis war der Roman "Einer flog übers Kuckucksnest". Kesey stieg aus, kaufte sich eine Ranch südlich von San Francisco und begann mit eigenen Experimenten, um die sich bald eine kleine LSD-Szene bildete, die das Zeug auch selbst herstellte: die "Merry Pranksters". Einige Beatniks waren dabei, und Allen Ginsberg brachte Timothy Leary hinzu, der an der Harvard University mit LSD experimentiert hatte und aufgrund seiner Ergebnisse argumentierte, richtig dosiert und angewandt habe LSD positive Effekte.



Kesey zog dann mit den Merry Pranksters in einem bunt angemalten Bus, in dem 20 Leute Platz hatten, durch die Lande, um die "frohe Kunde" von der befreienden Wirkung von LSD zu verbreiten. Freunde von Kesey wiederum initiierten in San Francisco die "Trips Festivals", bei denen neue Gruppen wie Grateful Dead und Jefferson Airplane auftraten. Die Musik bekam bald das Etikett "San Francisco Sound" verpasst. Auch Straßentheatergruppen wie die Diggers trugen um 1965 mit zu der sich formierenden Subkultur bei, aus der die Hippies wurden und die sich im Viertel Haight-Ashbury (benannt nach einer Straßenkreuzung dort) konzentrierte.

Die Kreativität der Counterculture

Diese Subkultur brachte noch etwas anderes Interessantes hervor: einen eigenen Mikrokosmos aus Medien, Kultur und Geschäften, der parallel zu etablierten Strukturen werkelte. Leonard Bernstein gab in einem CBS-Interview offen seine Bewunderung für diese "seltsame" neue Pop-Musikszene zu: "Ich sage 'seltsam', weil das anders ist als alles, was es in der Musikgeschichte gegeben hat – es ist vollständig von den Kids für die Kids, und mit Kids meine ich alle zwischen acht und 25. Sie schreiben ihre Songs selbst, sie singen sie, sie nehmen sie selbst auf. Sie kaufen auch die Platten, schaffen den Markt dafür und machen die ganze Mode selbst." Gerade in San Francisco waren Bands und Fans Teil desselben Ganzen, das sich ohne Verträge mit großen Labels im Wesentlichen durch Konzerte und Eigenveröffentlichungen über Wasser hielt.

In Haight Ashbury öffneten etliche Läden, die vom Räucherstäbchen bis zum Essen alles für die neue Szene anboten. Die Diggers waren dabei die radikalste Fraktion. Ihr Vorbild waren die englischen "Diggers" aus der Cromwell-Zeit, die 1649 einen Allmende-Hügel auf dem Land besetzten und dann die dort angebauten Lebensmittel verschenkten. Dem folgten die neuen Diggers, in dem sie nicht nur satirische und politische Straßenhappenings machten, sondern auch manchmal Essen verschenkten wie die berühmten 5000 Truthahn-Sandwiches beim Human Be-In. Manches stammte aus einer eigenen Landkommune, anderes wurde auch schon mal geklaut, weshalb die Presse ihnen den Beinamen "Hippie Robin Hoods" gab. Die Diggers verkörperten den strikt anti-kommerziellen Flügel der Hippie-Szene.

Sowohl in San Francisco als auch in London entstanden zwei wichtige Untergrund-Zeitungen: dort der Oracle, hier die International Times (Vorläufer des heutigen Londoner Stadtmagazins Time Out), sowie Hunderte anderswo in den USA. Sie folgten keinen gängigen journalistischen Regeln. Berichtet wurde aus der Szene für die Szene, schreiben konnte jeder, der etwas mitzuteilen hatte, Interviews wurden ohne nachträgliche Veränderungen abgedruckt (was damals völlig unüblich war). Die Hippie-Kultur schuf sich ihre eigene Medienplattform.

"Eine der großartigen Eigenarten der Counterculture war die Geschwindigkeit, mit der die Leute ihre Ansichten drucken und auf die Straße bringen konnten", sagte Derek Taylor, der damals als Journalist und Presseverantwortlicher für diverse Bands (auch für die Beatles) arbeitete. Mit Flugblättern wurde innerhalb weniger Stunden auf Ereignisse reagiert. Der Psychedelic Shop in Haight-Ashbury wurde mit seinem schwarzen Brett zum Kommunikationsknoten fürs Viertel. Das mag heute unspektakulär erscheinen, aber damals gab es weder Handys oder Blogs, alles musste eben noch analog abgewickelt werden – und es funktionierte.

Im März '67 schrieb der britische Dramatiker Tom McGrath in der International Times – die er mitgegründet hatte – einen manifestartigen Text, in dem er die Counterculture zu definieren versuchte. Derek Taylor hat in seinem 1987 erschienenen Buch "It was twenty years ago today" die fünf Hauptpunkte von McGrath so zusammengefasst:

1. Die Counterculture war eine nach innen gerichtete Bewegung, eher ein gemeinsamer Standpunkt als ein Credo oder gar ein Programm.

2. Sie ließ sich nicht mit rechtlichen Mitteln unterdrücken oder in McGraths Worten: "Man kann nicht das Bewusstsein ins Gefängnis sperren... die Revolution hat in den Köpfen der Jungen stattgefunden."

3. Die Bewegung war keine des Protestes, sondern der Feier (im Original "celebration", was mehr bedeutet als nur Party).

4. Es war nicht einmal eine Bewegung an sich, es waren Menschen, die zusammen kamen und groovten.

5. Zuallererst und am wichtigsten war: Sei glücklich, sei kreativ, sei optimistisch gegenüber allem – auch der Wasserstoffbombe, der Armut und Vietnam.

Punk vs. Hippie?

Dieser Idealismus ist später als Naivität weißer Mittelstandskinder abgetan worden. Die heftige Drogenkultur machte es leicht, im Summer of Love den Keim der heutigen Spaßgesellschaft zu sehen, die unpolitisch nur ans Feiern denkt. Und natürlich verwässerte sich die Hippie-Bewegung im Sommer '67 schnell, als Zehntausende nach San Francisco stürmten und sich die großen Medien und die Entertainment-Industrie schließlich auf sie stürzten und begannen, sie zu vereinnahmen. Gleichzeitig radikalisierte sich der Vietnam-Protest und überlagerte schnell den Love&Peace-Geist. Die Hippie-Szene hat dies sehr wohl wahrgenommen und darauf im Oktober '67 mit einem Schlussstrich reagiert: In der Aktion "The Death of Hippie" wurde die Bewegung in einem symbolischen Beerdigungszug für beendet erklärt. Der Psychedelic Shop schloss und verschenkte sein Inventar, viele der kreativen Protagonisten zog es "on the road", raus aus San Francisco, wo in Haight-Ashbury nur eine Karikatur übrig blieb, die zur reinen Drogenszene verkam.

Zehn Jahre später rechnete Punk mit dem ab, was von der Hippie-Kultur übriggeblieben war: ein großer Mainstream aus Laberern, die schlechte Rockmusik hörten. Heute gilt Punk nach wie vor als der eigentlich inspirierende, immer noch gültige Ausbruch, als die Opposition gegen die Konsumgesellschaft, die mehr Biss besessen hat als die Counterculture. Aber selbst Punk ist in weiten Teilen längst vereinnahmt worden, und danach kam nichts mehr, was einen vergleichbaren "revolutionären" Impuls hatte.

Ich behaupte allerdings: die anfängliche Hippie-Kultur war wie Punk minus Aggression. In ihrer Radikalität, das Leben ganz anders anzupacken, stand sie Punk in nichts nach. Auch Punk war Community-orientiert, weg von den etablierten Strukturen, mit einem Do-it-yourself-Anspruch. Der Unterschied ist, dass die Counterculture dies zehn Jahre vorher durchexerziert hat, ohne auf Vorbilder oder vorhandene Subkultur-Strukturen zurückgreifen zu können. Das Punk und Hippie Gegensätze sind, kann man eigentlich nur vertreten, wenn man ihre Oberfläche, ihr Auftreten vergleicht.

Heute, vierzig Jahre später, sind die Zeiten nicht ruhiger geworden. Der Wohlstand ist vielleicht größer, die Möglichkeiten vielfältiger. Aber der "Krieg gegen den Terror", die zunehmende Überwachung und Angriffe auf den Sozialstaat (wie Hartz IV hierzulande) geben der Gegenwart eine düstere Note, die der Atmosphäre in den Sechzigern nicht unähnlich ist. Darauf kann man mit Massenprotesten reagieren, mit verbaler oder auch realer Aggression – nur haben sich diese Formen meines Erachtens verbraucht. Die Proteste gegen den bevorstehenden G8-Gipfel werden nichts ausrichten.

Umgekehrt bieten die wiedererstarkte Debatte über einen umweltverträglichen Lebensstil und der Enthusiasmus über die Bürgermedien des "Web 2.0" die Möglichkeit, an deren Wurzeln anzuknüpfen. Denn, wie Oracle-Gründer Allen Cohen in den Neunziger in einem Rückblick auf den Summer of Love schrieb: "Das enorme Interesse an Ökologie und ganzheitlichem Denken begann damals... Die Anfänge der Computer-Revolution sind fest verwurzelt in den Sechzigern, viele Gründer der Desktop-Computerindustrie hatten damals ihre Bewusstseinsveränderungen durch psychedelische Drogen."

Warum eigentlich nicht "Love & Peace 2.0" (wobei mir Dope als Droge völlig genügt)? Das Revival hatten wir noch nicht. Es geht schließlich immer noch oder schon wieder darum, was Peter Coyote, Schauspieler und Mitglied der Digger, als seine Essenz der Counterculture beschrieben hat: "um persönliche Authentizität und darum, Verantwortung für die eigenen Visionen zu übernehmen." Wie man das umsetzt? In den Worten von Tom McGrath: "Die neuen Waffen sind Liebe und Kreativität." Sie sind noch lange nicht ausgereizt. Sogar Peter Hein, für mich die Ikone des deutschen Punk, ist gerade der Liebe wegen von Düsseldorf nach Wien gezogen. Wenn das kein vielversprechendes Omen ist...

Peace.

nbo


Zum Weiterlesen:

Derek Taylor, It Was Twenty Years Ago Today, Bantam Press 1987
Miles, Hippies, Heyne 2004
Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er-Bewegung, C. H. Beck 2001

LOMU let's peace

Intro
Der Summer of Love – aus heutiger Sicht
Human Be-In im Golden Gate Park
Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band
Chronik von 1967
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